„Das bin ich. Und das ist mein Lehrer.“

Lesung zum Buch „Klassenfoto mit Massenmörder“ mit Autor Jürgen Gückel

„Das bin ich.“ Jürgen Gückel zeigt auf ein Foto seiner Kindheit: 40 Zweitklässler aufgereiht fürs Klassenfoto, die Jungs mit kurzen Hosen und nackten Knien, die Mädchen mit baumelnden Füßen, die von der extra aufgestellten Bank nicht bis zum Boden reichen. Eine behütete Kindheit in Peine, einer Kleinstadt in Niedersachsen, könnte man meinen.
„Und das war mein erster Lehrer.“ Er zeigt auf einen Mann links der Klasse, hinter der ersten Reihe, in weißem Hemd, gestreifter Krawatte und grauem Jackett. „Ein deutscher SS-Offizier, Mörder und NS-Kriegsverbrecher. Von 1945 bis zu seiner Festnahme 1961 lebte er unter der Identität seines gefallenen Bruders Walter Wilke und arbeitete als Dorfschullehrer. Er hat über 1500 Kinder unterrichtet, obwohl er das weder konnte, noch durfte. Prügel gehörte dazu.“ Mit ernstem Gesichtsausdruck und tiefer Stimme erzählt der großgewachsene Norddeutsche von seiner Kindheit. Wie er erleben musste, dass sein Lehrer aus dem Unterricht heraus von der Polizei abgeführt wurde. Dieses Ereignis prägte sein Leben. Er recherchierte jahrelang, sichtete mehrere zehntausend Seiten Gerichtsakten und anderer Dokumente und rechnet unbestechlich mit der Vergangenheit ab. Gegen das Vergessen. Gegen das Vertuschen. Gegen das Schweigen und Verdrängen.

Für die Neunt- und Elftklässler des Gymnasiums Spaichingen las der Autor Jürgen Gückel in der Mediathek am 27.01.2022, dem Holocaust-Gedenktag, aus seinem Buch „Klassenfoto mit Massenmörder“.

Artur Wilke, der seine Identität fälschte, war studierter Theologe und Archäologe, im Dritten Reich der SS beigetreten, nachweislich an Massenerschießungen von Juden beteiligt, galt als gefürchteter Partisanen-Jäger und wurde nach dem Krieg dann Volksschullehrer. Sein Name ist mit grauenhaften Kriegsverbrechen verbunden, doch zur Rechenschaft gezogen wurde er für seine Taten nicht wirklich: Zu zehn Jahren Haft verurteilt, nach acht Jahren entlassen. Ein Mann, der Menschen ins Genick geschossen hat, sie in den Graben stieß: „Was weg ist, ist weg.“

Ein interessantes Gespräch zwischen dem Leistungskurs Geschichte und dem Schriftsteller entwickelte sich nach der Lesung. Was die Jugendlichen nicht verstehen konnten, war die Entwicklung eines Intellektuellen zum Täter, die Verneinung jeglicher persönlicher Schuld, das Wegsehen der Gesellschaft. Der Autor zeigte den SchülerInnen, wie schwierig das Erinnern ist, wie unterschiedlich Erlebtes bewertet wird und wie schwer die Erarbeitung historischer Wahrheit letztlich ist. Organisiert wurde die Autorenlesung vom Verein Initiative KZ-Gedenken Spaichingen. Jürgen Gückel stellte am Vorabend in der evangelischen Kirche in Spaichingen sein neues Werk vor, „Heimkehr eines Ausschwitz-Kommandanten. Wie Fritz Hartjenstein drei Todesurteile überlebte“, die Biografie des deutschen SS-Offiziers und Auschwitz-Kommandanten, der auch für das Lager und die unmenschlichen Bedingungen im KZ Spaichingen verantwortlich war. Auch ein Mann aus Gückels kleiner, niedersächsischer Heimatstadt Peine.
Wie wichtig es ihm ist, das Thema an die Menschen zu bringen, wird deutlich, dass er bei seiner Lesereise jeder Stadt anbietet, sein Buch in den Schulen ohne Gage vorzustellen.

A.Eddahbi

Zum Autor:
Jürgen Gückel ist Journalist und Autor. Er war fast vier Jahrzehnte als Redakteur und Korrespondent für die Zeitungen Peiner Allgemeine, Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse tätig und arbeitete 23 Jahre lang als Polizei- und Gerichtsreporter des Göttinger Tageblattes. Für seine Arbeiten ist er vielfach ausgezeichnet worden. Er erhielt den Konrad-Adenauer-Lokaljournalisten-Preis für seine Serie über das Wirken der Justiz, den Regino-Preis für eine Serie über die Grundrechte. Er deckte den Transplantations-Skandal am Universitäts-Klinikum Göttingen auf und wurde dafür zusammen mit Kolleginnen der Süddeutschen Zeitung und der Taz mit dem Wächterpreis des Verbandes der Deutschen Zeitungsverleger geehrt. Viermal wurde ihm der Alexander-Journalistenpreis zugesprochen. Den August-Madsack-Preis erhielt er für seine Berichte in einem spektakulären Mordfall. Er lebt heute wieder in seiner alten Heimat am Rande jenes Dorfes, in dem ein NS-Massenmörder zum geachteten Dorfschullehrer werden konnte. Das Buch wird zurzeit verfilmt.